Wenn man in der Softwareentwicklung das Thema Barrierefreiheit betrachtet, wurde bisher immer nur die Sicht von Blinden, Farbblinden oder einfach gestrickten Menschen betrachtet. Was ist aber mit anderen Beeinträchtigungen, die auch den Umgang mit Software beeinflussen?
Zuerst einmal: Die Bandbreite an neurologischen Abweichungen ist sehr vielfältig. Während Betroffene aus dem Autismus-Spektrum in Bereichen der IT bis hin zur Hochbegabung neigen, können Betroffene mit anderen Konditionen wie z.B. Legasthenie mit wahren Barrieren konfrontiert sein, wenn zum Beispiel ein Befehl exakt eingegeben werden muss.
Dieser Artikel hat also nicht zum Ziel, das Thema vollständig abzudecken, sondern will vielmehr einige Beispiele aus der Praxis aufgreifen und Lösungen für Einzelprobleme aufzählen. Das Feld ist insgesamt so breit, dass in der Praxis jeder Softwarehersteller seinen eigenen Weg finden muss.
Autistische User: Die Genügsamen
Zur Autismus-Spektrumsstörung, wozu auch das Asperger-Symptom zählt, gehören Menschen, die Probleme in der sozialen Interaktion haben, sowie ein weiteres für das Spektrum typische Merkmal wie z.B. Spezialinteressen oder sensiblere oder stumpfere Sinneswahrnehmungen.
Auf der anderen Seite lieben Autisten Routine und Struktur, was sie zu zufriedenen Software-Nutzern macht. Ein Autist kann es hassen, Telefonate vom Kunden entgegenzunehmen, liebt es aber, wenn alle anstehenden zu lösenden Probleme und Tagesaufgaben in einem Ticketsystem hinterlegt sind. Somit können Alltagsprobleme für Autisten mit Software angegangen werden, um insgesamt eine bessere Arbeitsumgebung für alle zu schaffen.
ADHS: Chaos im Kopf, Abhilfe durch Software
Ein weiterer Profiteur von Software ist der ADHS-Betroffene. Hier hilft die zentrale Datenablage eines Software-Systems, vergessene oder verlorene Gedanken wiederaufzufinden und der eigenen Kreativität einen strukturellen Rahmen zu geben.
Beim Software-Design müssen aber trotzdem Freiräume eingeplant werden, die für neurotypische Menschen eher hinderlich wären. Der alte Grundsatz, dass man jede Funktion in der Software nur über ein einziges Menü erreichen darf, darf hier nicht mehr gelten. Überall, wo ein Datensatz angezeigt wird, muss man ihn auch anklicken können und Seitengedanken nachgehen können. Das erreicht man zum Beispiel, wenn man ein System wie FOP benutzt.
Narzissmus: Kontrollwahn trifft Werkzeugkasten
Für Betroffene einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung in einer Vorgesetztenfunktion ist die Anschaffung jeglicher Verwaltungssoftware eine Goldgrube. Endlich können sie ihren Mitarbeitern vorschreiben, selbst die kleinsten Schritte minutiös zu dokumentieren und jederzeit für den Vorgesetzten einsehbar vorzuhalten.
Den neurotypischen Benutzern derselben Software bringt es aber auch Vorteile im Umgang mit ihrem Vorgesetzten: Reine Vorwürfe oder Zweifel an der ordnungsgemäßen Durchführung einer Aufgabe können über die haargenaue Dokumentation, zum Beispiel in der Zeiterfassung, ausgeräumt werden.
Dyskalkulie: Nicht mehr selber rechnen müssen
Für Menschen mit Dyskalkulie war schon die Erfindung des Taschenrechners eine enorme Erleichterung. Software, die nach Eingabe aller Informationen das Controlling korrekt ausrechnet, ist ein Segen. Wenn dann noch die Zahl in einem Ampelsystem (Rot-Gelb-Grün) interpretierbar dargestellt wird, ist die Welt perfekt.
Legasthenie: Logik-Genies, aber „0 Suchtreffer für Tohn“
Die Tragik von Legasthenikern bei der Computerbedienung ist, dass sie die richtigen Gedankengänge fassen, aber der Computer mit der nicht-exakten, phonetischen oder sinngemäßen Be- oder Umschreibung der Begriffe überfordert ist.
Während bei moderner Software mit grafischen Bedienoberflächen weniger Texteingaben notwendig sind, ist vor allem das Programmieren und das Schreiben für Legastheniker mit Hürden verbunden. Werkzeuge wie Textergänzung, Autokorrektur-Vorschläge, gern auch mit KI-Integration, helfen, die Buchstaben und Silben in die benötigte Reihenfolge zu bringen.
Neurotypische Personen: Barrierefreiheit für „Normale Menschen“
Auch neurotypische Menschen sind nicht perfekt – im Gegenteil. Während ADHS- und Autismus-Betroffene sich ja bekanntlich prima mit IT arrangieren können, gibt es unter den neurotypischen Menschen viele, die mit Computern auf Kriegsfuß stehen.
Während Autisten beispielsweise die Welt als ein logisches Konstrukt sehen mit klaren Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen und dann von deren Komplexität überfordert sind, betrachtet der neurotypische Mensch die Ursachen und Wirkungen grundsätzlich nicht getrennt und will so viel Einflussfaktoren wie möglich in seine Beurteilung einfließen lassen. So muss man beim Design von Benutzeroberflächen für neurotypische Menschen darauf achten, dass Farbe und Form der Benutzeroberfläche dieselbe Sprache sprechen. Eine reine Inhaltsfokussierung ohne Design würde neurotypische Menschen überfordern.
ADHS-Betroffene sind in der Lage, mehrere Gedankenstränge gleichzeitig zu bearbeiten. Das können neurotypische Menschen nicht. Fatal wird das, wenn der Nutzer der Software einen Button oder eine Funktion finden möchte. Der zielgerichtete Fokus auf nur einen einzigen Punkt auf den Bildschirm, sowie das Herausfiltern von Bekanntem sorgen dafür, dass eine neurotypische Person minutenlang auf den Bildschirm starren kann, ohne den Button zu sehen, der direkt groß in der Mitte des Bildschirms platziert ist. Auch die meisten Phishing- und Betrugsversuche machen sich genau diese Schwäche neurotypischer Menschen zunutze, um zum Beispiel Bankdaten abzugreifen.
Fazit
Software hilft neurodivergenten Personen, ihren Berufsalltag besser zu meistern. Die Anpassungen für die Barrierefreiheit von Software sind meist nicht wie bei den Blinden optischer Natur, sondern müssen tief ins Konzept der Software mitverankert werden.
Launix beschäftigt selbst neurodivergente Menschen und optimiert auch Software für Barrierefreiheit.
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